Betteln verboten

Neue Gefahrenabwehrverordnung von Rot-Grün-PDS beschlossen

Am 18. Juli 2003 hat die Mar­bur­ger Stadtverordnetenversammlung eine neue ›Gefahrenabwehrverordnung‹ beschlossen. In der Öffentlichkeit wurde sie kaum thematisiert, für Furore sorgte allein der Streit um eine angemessene Nachtruhe für die AnwohnerInnen der Lahnauen im Südviertel. Mit den Stimmen von SPD, Grünen und PDS/Marburger Linke wurde schließlich ein Entwurf durchgesetzt, der immerhin (aber nur in diesem Punkt der Lahnauen) den CDU-OB so empörte, dass er den AnwohnerInnen eine Klage anriet. Insgesamt aber bot sich bei der turnusgemäßen Erneuerung (solche Verordnungen gelten maximal zehn Jahre) eine relativ ruhige und einige Debatte – v.a. im Vergleich zu den Diskussionen in Gießen: Dort wurde vor etwa einem Jahr ebenfalls eine neue Gefahrenabwehrverordnung erlassen, die sogar das Hineingreifen in Mülleimer und das Verteilen von Flugblättern als gefährliches Verhalten verbot. Gegen Protest aus verschiedenen Kreisen wollte sich der (vor kurzem wiedergewählte) CDU-OB Haumann nur noch mit einer fingierten Bombendrohung und der folgenden polizeilichen Räumung des Sitzungssaals von jeglicher Öffentlichkeit wehren.

Was steht also in der neuen Marburger Gefahrenabwehrverordnung? Generell sind in solchen Ordnungen – die ortsrechtliche Bestimmungen sind – Verhaltensregeln für öffentliche Straßen, Plätze und Grünanlagen benannt mit dem abstrakten Ziel, Gefahren abzuwehren. Hierunter fallen Umweltverschmutzungen und Verletzungsrisiken ebenso wie Beeinträchtigungen anderer Menschen durch ›störendes‹ Verhalten. Lange Abschnitte widmen sich dem Leinenzwang für Hunde im Innenstadtbereich, der Pflicht zur Beseitigung von Hundekot oder dem Verbot des Waschens von Autos auf öffentlichen Straßen. Andere Punkte regeln die Benutzungszeiten von Kinderspielplätzen oder eben der Lahnauen (in diesem einzigen strittigen Punkt setzten SPD/Grüne/PDS die Formulierung durch ›ist die Nachtruhe einzuhalten‹, ohne eine deutliche Zeitangabe, wie AnwohnerInnen und OB Möller sie gefordert hatten). Auch die Beschränkung der Verwendung von Stacheldraht im öffentlichen Raum ist enthalten.

Aber einige der Neuerungen zeigen dann doch den Geist der neuen Zeit – schließlich wäre es verwirrend, wenn Sozialabbau, Entsolidarisierung und Vertreibungspolitik gegen Arme v.a. in den großen Städten kein Pendant in unserer mittelhessischen Kleinstadt fänden. Der Paragraf 5 beispielsweise heißt: Grob störendes Verhalten. Hier findet sich der Satz »Auf öffentlichen Straßen und Anlagen ist es untersagt, zu lagern und zu nächtigen.« Tja, mag sich da der Henning Köster von der Partei des Demokratischen Sozialismus gedacht haben, Pech gehabt. Kann doch in der Jugendherberge schlafen, wer gerade keine Wohnung hat. Aber wenigstens ist das eine klare Anweisung für die Polizei. Vielleicht kann sich ja auch in Marburg eine in anderen Städten längst übliche Praxis etablieren: Obdachlose, die von der Polizei aufgegriffen werden, werden aufs Land gefahren und dort ausgesetzt – gelegentlich sterben sie dann, aber das nimmt man in Kauf. Schwieriger wird es schon bei § 5, Absatz 2: »Auf öffentlichen Straßen und Anlagen ist es untersagt, andere durch Trunkenheit [...] mehr als nach den Umständen vermeidbar zu behindern oder zu belästigen.« Was ist denn nun mit besoffenen Burschen beim Marktfrühschoppen oder dem Vorsitzenden irgendeiner Stadtteilgemeinde, der nach ein paar Schoppen zuviel nicht mehr geradeaus läuft? Hier ist politische Sensibilität bei den Ordnungsbehörden gefordert, um zu unterscheiden, wer sich ordnungswidrig verhält und wer nützliches Mitglied dieser Gesellschaft ist.

Ein weiterer Klassiker aus städtischen Verordnungen zur Vertreibung unerwünschter Personen begegnet der Leserin im nächsten Absatz: »Auf öffentlichen Straßen und Anlagen ist das aggressive Betteln, organisierte Betteln und das Betteln mit Kindern untersagt.« In der Praxis wird die herbeigerufene Polizei entscheiden müssen, was denn nun aggressives Betteln ist. Ehrenwerte BürgerInnen bei Weihnachtseinkauf nach einer kleinen Spende zu fragen, könnte demnächst also zu noch mehr Ärger führen als ›nur‹ beschimpft zu werden – immerhin werden für Zuwiderhandlungen gegen die Ordnung zwischen 5 und 500 Euro fällig.

Und schließlich definiert § 4 noch, wie man in Marburg zu wohnen hat: KFZ oder Wohnwagen dürfen »nicht länger als sieben Tage als Unterkünfte genutzt werden«.

Was also da in breiter Einigkeit von rechts-konservativ bis links-demokratisch beschlossen wurde, bleibt zugegebenermaßen deutlich hinter Auswüchsen des Überwachungs- und Kontrollwahns zurück, wie er beispielsweise in Gießen praktiziert wird, reiht sich jedoch dennoch in die Maßnahmen zur Vertreibung ganzer Personengruppen aus den ›sauberen‹ Innenstädten ein. In der Zukunft wird beobachtet werden müssen, wie die Verordnung von PolizeibeamtInnen, freiwilligen PolizeihelferInnen, Ordnungsamt und Gerichten ausgelegt wird.

(bb)

sputnik