Arbeitszwang, Kopfgeld und sichere Zukunft

Die so genannten Reformen im Sozialwesen kommen wenig überraschend. Bei ihrem Treffen 2000 in Lissabon beschlossen die EU Regierungschefs die »Strategie von Lissabon«, welche zum Ziel hat, den EU-Raum bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. So sind die Veränderungen in der Sozialpolitik, die unter den Namen Riesterrente, Hartzreform und Rürupreform firmieren, als Ausdruck einer Politik zu verstehen, die Unternehmen bessere Wirtschaftsbedingungen mittels niedrigerer Steuern, geringerer Sozialausgaben und der Erweiterung des Niedriglohnsektors garantieren will. In diesem Sinne werden dann Maßnahmen beschlossen, die gegen abhängig Beschäftigte und Erwerbslose gerichtet sind: Altersvorsorge und Gesundheit werden individualisiert, der Arbeitsmarkt dereguliert sowie der Arbeitszwang für Erwerbslose ausgeweitet.

Arbeitszwang

Seit Sommer 1999 ist im Schröder/Blair-Papier nachzulesen: »Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit Arbeit zu finden behindert, muss reformiert werden. Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln.« Diese neoliberale Rhetorik wurde mittlerweile in handfeste Politik umgesetzt. Am 1.1.2002 ist das Job-AQTIV-Gesetz in Kraft getreten. Aktivieren, Qualifizieren, Trainieren, Investieren, Vermitteln, heißt die Aktivierungsprogrammatik von SPD und Grünen. Was sich dahinter verbirgt, ist eine verstärkte Schikane gegenüber Erwerbslosen. Denn wer aus welchen Gründen auch immer ›Angebote‹ zur Qualifizierung ablehnt, dem oder der drohen Leistungskürzungen und Sperrzeiten. Das Job-AQTIV-Gesetz ist neben einer Reihe von Kampagnen gegen Erwerbslose (»Es gibt kein Recht auf Faulheit«) ein weiterer Schritt, der die strukturellen Ursachen von Arbeitslosigkeit leugnet und die Schuld für Arbeitslosigkeit individualisiert, also den Erwerbslosen selbst zuschreibt. Dies geschieht nicht aufgrund von Blödheit, sondern wird propagandistisch eingesetzt, um den Arbeitsmarkt grundlegend neu zu strukturieren.

Statt Erwerbslosen die Mittel zur Verfügung zu stellen, ein auskömmliches Leben führen zu können, sollen sie nun um jeden Preis in Arbeit gesteckt werden, denn bekanntermaßen ist ja jede Arbeit besser als keine Arbeit. So ist die Hartz-Kommission zusammengetreten und hat ein Konzept zur Repression gegen Erwerbslose vorgelegt. Die Kommission hat sich mit der Frage beschäftigt, warum Erwerbslose für ihre Arbeitskraft keine KäuferInnen finden, und ist zu dem Schluss gekommen, dass sie zu unattraktiv ist. Und wie wird eine Ware attraktiver? Indem sie billiger und nutzbarer wird!

Zum Zeitpunkt ihrer Kündigung sollen sich die künftigen Erwerbslosen beim Job-Center melden; anstatt ihrer sucht dann das Center eine ›geeignete‹ Arbeit. Selbst können sie sich kaum um eine neue Arbeitsstelle kümmern, da sie ja noch arbeiten müssen. Melden sie sich nicht oder verspätet, werden ihnen die Bezüge gekürzt. Erwerbslose können in Zukunft auch verstärkt zu so genannten Arbeitsgelegenheiten eingesetzt oder zu Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen verpflichtet werden. Bei Arbeitsgelegenheiten handelt es sich um Arbeiten außerhalb eines regulären Beschäftigungsverhältnisses und dementsprechend auch ohne Sozialversicherungsabgaben durch den/die ArbeitgeberIn. Erwerbslose werden zu kurzfristig einsetzbaren Personen, die kommunale Aufgaben wie z.B. Straßen kehren etc. übernehmen müssen. Eine weitere Neuregelung sieht vor, dass es als zumutbar gelten soll, ab dem vierten Monat der Arbeitslosigkeit einen Wohnortwechsel zu vollziehen. Eine familiäre Bindung kann dies unzumutbar machen. Aber ein junger, dynamischer, mobiler, flexibler Single muss sich wohl damit abfinden, dass das Arbeitsamt in Zukunft seinen Lebensmittelpunkt bestimmt.

Jedem Job Center wird eine Personal Service Agentur angegliedert. Hierbei handelt es sich um Agenturen, die Zeitarbeitsfirmen gleichen. Erwerbslose können verpflichtet werden, sich bei einer PSA unter Vertrag nehmen zu lassen; weigern sie sich, werden ihnen – wie soll es anders sein – die Bezüge gekürzt. Sind Erwerbslose erst mal bei einer PSA unter Vertrag, so kann diese frei über sie verfügen, sie an interessierte Unternehmen verleihen. Die ersten sechs Monate Arbeit in einem entleihenden Unternehmen werden faktisch nicht bezahlt, denn die neue ArbeitnehmerIn erhält lediglich ein Entgelt in Höhe des Arbeitslosengeldes. Nach der ›Probezeit‹ gilt ein spezieller PSA-Tarif, der unterhalb des Tarifs der Entleihfirma liegen wird. Kündigungsschutz muss das Unternehmen nicht gewährleisten, da die ArbeitnehmerIn ja sowieso nicht angestellt, sondern ausgeliehen ist, und die Sozialversicherungsbeiträge zahlt nicht das Unternehmen, sondern das Arbeitsamt. Billiger und nutzbarer bedeutet also: Keine Sozialbeiträge, kein Kündigungsschutz und wenig Einkommen.

Schon heute leben 80000 Vollerwerbstätige zusätzlich von Sozialhilfe. Durch die Rot-Grüne Förderung eines Niedriglohnsektors z.B. durch Minijobs wird sich die Zahl der ›working poor‹ noch weiter erhöhen. Die von SPD und Grünen forcierte Verarmung weiter Teile der Gesellschaft zeigt sich auch in der Umstrukturierung der Arbeitslosenunterstützung. So werden die Anspruchskriterien für den Bezug von Arbeitslosengeld verschärft und die Bezugsdauer gekürzt. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die de facto eine Kürzung des Arbeitslosenhilfesatzes auf den Sozialhilfesatz bedeutet, drängt Millionen Menschen in die Armut. Um den Druck auf die Erwerbslosen zu erhöhen – als sei ein Auskommen ohne Geld nicht Druck genug – werden die PartnerInnen der Erwerbslosen stärker als bisher belastet. Soviel zum Gender-Mainstreaming. Denn wer in der Mehrzahl in die Abhängigkeit vom Partner gerät, ist offensichtlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Frauen im Durchschnitt um ein Drittel weniger verdienen als Männer.

Noch schlimmer trifft es AsylbewerberInnen und MigrantInnen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus. Nach den Vorstellungen der Rot-Grünen Bundesregierung sollen diese aus dem Arbeitslosengeld II ganz herausfallen, mit der Begründung, dass nur Personen Arbeitslosengeld II erhalten sollen, die auch unbeschränkten Zugang zum Arbeitmarkt haben. Der ist diesem Personenkreis aber qua deutschem Recht verwehrt. Haben sie nach Ablauf ihres Anspruchs auf Arbeitslosengeld keine neue Anstellung, erhalten sie nur noch ›Hilfe‹ nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bzw. Sozialhilfe. Im Asylbewerberleistungsgesetz ist festgeschrieben, dass das Existenzminimum für Asylsuchende nur ca. 75 % von dem von Deutschen beträgt. Des Weiteren werden Leistungen häufig in Form von Sachmitteln und Gutscheinen anstatt in Geld ›ausgezahlt‹. MigrantInnen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus, die Sozialhilfe beziehen, erhalten kein Dauerbleiberecht, haben keine Chancen auf Einbürgerung und sind gefährdeter, abgeschoben zu werden. Das Herausfallen aus dem Arbeitslosengeld II bedeutet aber auch das Herausfallen aus Weiterbildungsangeboten und Arbeitsvermittlung und demnach faktisch aus dem regulären Arbeitsmarkt insgesamt. Aufgrund von Protesten von Sozialverbänden ist eine Facette dieser rassistischen Gesetzgebung aufgehoben. MigrantInnen mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung erhalten nun doch Arbeitslosengeld II. Allerdings haben sie keine Chance, ein dauerhaftes Bleiberecht zu bekommen, was mit dem Bezug von Arbeitslosenhilfe noch möglich war. Für AsylbewerberInnen und Geduldete bleibt es bei den oben beschriebenen Maßnahmen und ihren möglichen Folgen.

Auch gegen erwerbslose Jugendliche werden repressive Maßnahmen eingeführt. Wer unter 25 ist und eine ihm angebotene Arbeit oder Arbeitsgelegenheit ablehnt, dem können die Bezüge auf der Stelle komplett gestrichen werden. Eine selbstständige Zukunftsplanung für Jugendliche ohne Arbeitsstelle ist im aktivierenden Sozialstaat nicht mehr möglich, außer Person X hat das Glück, wohlhabende FörderInnen zu haben. Diese sind auch notwendig, falls umgesetzt wird, was diskutiert wird: das Ausbildungszeitwertpapier. Nicht mehr Betriebe sollen die Kosten für die Ausbildung tragen, sondern die Auszubildenden selbst. Mit Fonds, in die Eltern, Großeltern und andere einzahlen können, sollen sich die künftigen Azubis ihre Stelle in Zukunft erkaufen. Damit materiell schlecht gestellte Jugendliche auch die Möglichkeit zum Erwerb eines Ausbildungsplatzes haben, soll ihnen die Möglichkeit gegeben werden, einen eigens hierfür eingerichteten Kredit aufzunehmen, den sie dann nach ihrer Ausbildungszeit zurückzuzahlen haben. Lieber eine verschuldete als gar keine Zukunft.

Kopfgeld

Die Lohnnebenkosten sind zu hoch. Im Gesundheitswesen findet eine Kostenexplosion statt. Die Lohnnebenkosten sind zu hoch! Im Gesundheitswesen findet eine Kostenexplosion statt! Die Lohnnebenkosten sind zu hoch!!

Manche Dinge müssen nur oft genug wiederholt werden, damit zumindest PolitikerInnen jeglicher Coleur sie glauben bzw. vertreten. Der Anteil der Gesundheitsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist über Jahrzehnte hinweg konstant. Und dass Arbeit zu teuer ist, weil die Lohnnebenkosten zu hoch sind, und das wiederum der Grund für angeblich fehlende Arbeitsplätze ist, ist auch eine Legende.

Aber da dies alles geglaubt bzw. damit argumentiert wird, wurde die Rürup-Kommission gebildet, die ein Konzept zur Senkung der Sozialversicherungsbeiträge entwarf, welches die große Koalition dann verabschiedete.

Im Sinne der Gerechtigkeit werden nun alle gleich behandelt. Auf jeden Fall diejenigen, die es sich leisten können. Ein Kopfgeld von 10 EUR pro Arztbesuch und Quartal müssen nun alle bezahlen, die nicht an Selbstheilungskräfte glauben. Allerdings nur bis zu 2 % des Bruttojahreseinkommens. Bei einem Jahresverdienst von 24000 EUR handelt es sich um 480 EUR. Ein kleiner Urlaub also, den sich viele sowieso nicht leisten können.

Auch Zuzahlungen für Medikamente und Krankenhausaufenthalte sollen ausgeweitet werden, was im Ergebnis eine weitere Belastung für Kranke darstellt.

Ab 2005 wird der Zahnersatz aus der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgegliedert. Eine private Zusatzversicherungspflicht für den Zahnersatz soll gewährleisten, dass Menschen auch in Zukunft noch Zähne haben (und ZahnärztInnen weiter Porsche fahren können). Ob sie sich das Notwendige zum dazwischenschieben dann auch noch leisten können, ist von geringerem Interesse, da es dem guten Kanzler in erster Linie nur darum geht, dass man am Gebiss eines Menschen seinen sozialen Status nicht erkennt. Dass ihm dieser Wunsch nicht erfüllt werden wird, ist klar, denn welche Leistungen durch die Zusatzversicherung abgedeckt sein werden, wird sich am Einkommen des oder der Einzelnen orientieren.

Ab 2006 dann muss das Krankengeld allein von den ArbeitnehmerInnen getragen werden. Nochmal 0,5% des Bruttolohns sind dann nicht mehr verfügbar.

Das Solidarprinzip im Gesundheitswesen wird step by step aufgegeben. Zwar konnten noch nie unabhängig vom Einkommen alle gleichermaßen medizinische Leistungen in Anspruch nehmen, da die GKVs nicht sämtliche Behandlungsmethoden bezahlen, aber bisher gab es wenigstens sowohl einen relativen Ausgleich zwischen Kranken und Gesunden als auch eine prozentuale Beteiligung an den Beiträgen zur GKV in Abhängigkeit zum Einkommen, die die medizinische Grundversorgung gewährleistete.

GeringverdienerInnen werden sich in Zukunft fünfmal überlegen, ob sie sich im Falle einer Krankheit an eine Ärztin wenden oder ob sie erst mal hoffnungsvoll darauf vertrauen, dass sich alles von alleine regelt. Besonders tragisch ist dies, weil Personen mit niedrigem sozialen Status aufgrund ihrer gesellschaftlichen Benachteiligungen sowieso häufiger krank sind.

Was die langfristige Planung für die Entwicklungen im Gesundheitssystem betrifft, konnte sich die Rürup-Kommission nicht auf ein Modell einigen. Deshalb hat sie zwei Alternativkonzepte vorgeschlagen: die Erwerbstätigenversicherung und das Kopfprämienmodell. Das Konzept der Erwerbstätigenversicherung sieht die Einbeziehung aller Einkommensgruppen und -arten in die GKV vor. Die rund 10 % Privatversicherten, v.a. also BeamtInnen, Selbstständige und Besserverdienende, sollen in die GKV einbezahlen. Die Höhe der Beiträge wäre weiterhin abhängig vom Verdienst und die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze ein weiterer Schritt zur Finanzierung der Vollversicherung der Krankenversicherten. Ein solches Modell, welches Vermögende stärker belastet und die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen relativ vom Einkommen entkoppelt ist angesichts der schon eingeleiteten Schritte hin zu mehr Eigenfinanzierung und der neo­liberalen Politikpraxis nahezu ausgeschlossen Das Kopfprämienmodell scheint für die Zukunft weitaus wahrscheinlicher. Die Finanzierung der GKVs soll unabhängig vom Verdienst gestaltet werden. Egal also, ob das Einkommen 10000 EUR überschreitet oder 1000 EUR unterschreitet, alle sollen gleich viel bezahlen. Über steuerfinanzierte Zuschüsse soll sozialer Ausgleich geschaffen werden. Wer glaubt es?

Operation sichere Zukunft

Was SPD und Grüne können, kann die CDU schon lange, dachte sich die hessische Landesregierung wohl, als sie das Sparpaket für das Land Hessen vorstellte. Zwar geht es bei Rot-Grün um die Rücknahme sozialer Rechte und bei der hessischen CDU um den Abbau sozialer Infrastruktur, aber in beiden Fällen handelt es sich um Maßnahmen, die sich in ihrem Gros explizit gegen sozial Benachteiligte richten.

Worum es geht: BeamtInnen in Hessen sollen künftig länger arbeiten, kein Urlaubsgeld mehr erhalten und das Weihnachtsgeld gekürzt bekommen. Studierende müssen in Zukunft pro Semester eine Studiengebühr von 50 EUR bezahlen und wer gemäß den Vorstellungen der hessischen CDU zu lange studiert, muss ebenfalls zahlen und zwar zwischen 500 EUR und 900 EUR je nach Anzahl der überschrittenen Semester. Studierende im Zweitstudium und auch GasthörerInnen sollen ebenfalls zahlen. Dass dies in erster Linie Studierende trifft, deren Eltern nicht die Möglichkeit oder den Willen haben, für die Bildung ihrer Kinder aufzukommen bzw. diejenigen, die sich neben dem Studium selbst voll- oder teilfinanzieren müssen, ist offensichtlich. Insofern wird der in Deutschland/Hessen sowieso schon kleine Anteil Studierender mit niedrigem sozialen Status noch geringer und gleichzeitig dem herrschenden Leitbild Rechnung getragen, welches Bildung lediglich als Investition in das Humankapital betrachtet und folgerichtig Selbstbestimmung und kritische Wissenschaft als fehlgeleitete Interessen begreift.

Die heftigsten Angriffe gehen allerdings gegen die, deren materielle Lebensgestaltung sich schon heute schwierig gestaltet. Die 33%ige Kürzung der freiwilligen Leistungen des Landes bedeutet einen noch mal verstärkten Ausschluss derer, die sozial am Rande stehen, aus dem gesellschaftlichen Leben.

Die Förderung für Projekte zur Integration Behinderter wird drastisch gekürzt, Projekte, die dazu gedacht sind, einen Ausgleich gegenüber nicht Benachteiligten zu schaffen. Aber so wie der Jungen Union alte Menschen als Schmarotzer gelten, sind es bei der alten Union wohl Menschen mit Behinderung. Die Zuschüsse für Schuldnerberatungen sollen vollkommen gestrichen werden, ebenso wie die Sozialberatung für ausländische ArbeitnehmerInnen, zahlreiche Selbsthilfegruppen, Projekte zur Betreuung von Obdachlosen, sämtliche Frauenbildungsprojekte etc. Insgesamt werden die Landeszuschüsse für Frauenprojekte von etwa 6 Millionen EUR um mehr als 3,5 Millionen gekürzt. Die Abschaffung der Unterstützung von Frauenbildungsprojekten richtet sich gegen die (Wieder-) Eingliederung von Frauen in den Arbeitsmarkt. Einige Frauenhäuser werden komplett schließen müssen. Der sowieso nur ideelle Anspruch des Rechts auf körperliche Unversehrtheit wird an dieser Stelle zur Farce. Die Einsparungen im Bereich der Frauenarbeit sind eindeutig gegen Frauen gerichtet, die sich gegen die Hausfrauenehe entscheiden. Mit der Schließung etlicher Frauenhäuser werden die durch die Neue Frauenbewegung entstandenen Zufluchtsstätten für gedemütigte und misshandelte Frauen an vielen Orten abgeschafft. Dass dadurch viele Frauen der Gewalt durch ihre Männer ausgesetzt bleiben, entspricht dem konservativen Wertekanon, in dem der Schutz der Familie ganz oben steht, unabhängig davon, wie sich das Familienleben gestaltet.

Bezogen auf den Haushalt des Landes Hessen handelt es sich bei den Einsparungen im Sozialbereich um Peanuts. Die Konsequenzen für die Betroffenen hingegen sind fatal. Menschen, die Zuflucht suchen und Hilfe benötigen, werden sie in noch geringerem Ausmaß erhalten, als es bisher schon der Fall war. Keineswegs sind die Einsparungen in dieser Weise notwendig, sie sind vielmehr ideologisch motiviert. Die eigene Klientel ist von den Einsparungen kaum betroffen. So ist der Landesverband der Vertriebenen von den Kürzungen ausgenommen und für die Förderung des Eliteinternats Hansenburg kann das hessische Land auch noch Millionen locker machen. Prinzip dieser Haushaltseinsparung ist nichts anderes als die weitere Diskriminierung sozial Benachteiligter, die weitere Ausgrenzung von Armen aus der Gesellschaft und die weitere Domestizierung von Frauen.

Warum so wenig Widerspruch?

Obwohl es sich bei den beschlossenen und geplanten Maßnahmen um eine dramatische Verschlechterung bezüglich der Rechte von und Leistungen für abhängig Beschäftigte und Erwerbslose, bei gleichzeitiger Umverteilung nach oben, handelt, gibt es kaum Proteste gegen die Agenda 2010 oder die Gesundheitsreform. Woran liegt das? Man könnte die allgemeine Abneigung in Deutschland, sich gegen die Obrigkeit zu wenden, verantwortlich machen, insbesondere, wenn man die Proteste in anderen europäischen Ländern gegen den auch dort stattfindenden Sozialabbau betrachtet. Das mag ein Grund sein, aber nicht der einzige. Im vergangenen Jahrzehnt hat es die Politik gut verstanden, politische Entscheidungen in Sachzwangentscheidungen umzuinterpretieren. Die Vorstellung, dass es zum praktizierten politischen Handeln keine Alternative gibt, ist gesellschaftlicher Konsens, obwohl Nonsens. Des Weiteren hat der Standortnationalismus ideologisch innergesellschaftliche Widersprüche verdeckt und die Gesellschaft in der Gestalt formiert, dass nicht mehr Kapital und Arbeit, sondern Standort und Standort sich gegenüberstehen. Um im Wettbewerb um Standortvorteile zu bestehen, wurde ein gesellschaftlicher Pakt geschlossen, der im ›Bündnis für Arbeit‹ seinen Ausdruck fand, allerdings nicht mit dem Scheitern des Bündnisses ebenfalls gescheitert ist. Die Massenarbeitslosigkeit, deren Abbau als ein Grund für die Etablierung eines solchen Bündnisses behauptet wurde, wurde in den letzten Jahren zunehmend zur disziplinierenden Drohkulisse für abhängig Beschäftigte. Aus der Pflicht zur Lohnarbeit, um ein auskömmliches Leben führen zu können, resultiert die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Diese verständliche Existenzangst wiederum führt zur Zeit nicht zu einer Bewegung für Existenzabsicherung, sondern dazu, dass diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben auch die Verminderung ihrer Rechte in Kauf nehmen um diesen behalten zu können.

Denn Arbeit, und zwar egal welche, ist zum erstrebenswertesten Ziel unserer Zeit geworden. Wer keine Arbeit hat, ist nicht nur aufgrund seiner oder ihrer materiellen Notlage einE AußenseiterIn, sondern erfährt auch Geringschätzung durch die Gesellschaft. Durch den Eigenwert, den Arbeit mittlerweile besitzt, lässt sich auch erklären, dass sich an den repressiven Zwangsmaßnahmen, denen Erwerbslose unterliegen (werden), kaum jemand stößt. Im Gegenteil empfinden es diejenigen, die Arbeit haben, als gerecht, dass nun auch die Erwerbslosen für ihr Geld etwas leisten müssen.

Leistung, noch so ein Begriff... Nur wer was leistet, soll auch etwas bekommen. Und Leistung ist selbstverständlich auch nur das, was der Volkswirtschaft zu Gute kommt.

Ein weiteres Problem ist, dass die, von denen man Widerstand erwartet, die Reformprojekte mitgestalten (wollen) – die Gewerkschaften. Unbestritten befinden sie sich in einer schwierigen Situation. Keine gesellschaftstragende Gruppe war in letzter Zeit solchen Angriffen ausgesetzt wie die Gewerkschaften. Leider hat das bei ihnen nicht zu einer Distanzierung von der etablierten Politik geführt, sondern dazu, ihre Konstruktivität erst recht unter Beweis stellen zu wollen. Somit sind Proteste ihrerseits nur leise zu vernehmen. Wenn aber sogar die Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen sich zurückhält in Fragen der Kürzungen bei ihrer eigenen Klientel, führt das schließlich oft zu Resignation bei denen, die betroffen sind. Statt dessen:

Aufruhr, Widerstand –Klassenkampf statt Vaterland!

(be)

sputnik