Wer nicht arbeitet, kriegt nichts zu essen

Wie die Regierung mit dem Hartz-Konzept die Arbeitslosigkeit bekämpft

Seit den 70er Jahren ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eines der bestimmenden Themen in der politischen Öffentlichkeit der BRD. Ohne auf diesem Gebiet kompetent zu erscheinen, rechnete sich keine Partei einen Erfolg bei der Bundestagswahl 2002 aus, schon gar nicht eine Bundesregierung, die vormals erbeten hatte, den Erfolg ihres politischen Wirkens der offiziellen Arbeitslosenstatistik zu entnehmen.

So wurde vor der Wahl eine Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz-Kommission) eingesetzt. Kernstücke in ihrem Abschlussbericht sind Plä­ne zur exzessiven Ausweitung von Leiharbeit, kombiniert mit verschärften Zumutbarkeitsregelungen und Leistungskürzungen für Erwerbslose, sowie die Förderung von Niedriglohnarbeitsverhältnissen (die sogenannte ›Ich-AG‹). Die Kommission verspricht der – mittlerweile glücklich wiedergewählten – Bundesregierung einen deutlichen Rückgang der Arbeitslosenzahlen durch diese Maßnahmen und warnt dabei ausdrücklich vor einer »Verwässerung« des Konzepts. Das zielt augenscheinlich gegen die Gewerkschaften, die ihre Kritik an den Hartz-Vorschlägen denn auch zum Teil als »Veredelung« bezeichnen.

Warum eigentlich ist die Arbeitslosigkeit das große politische Thema der letzten Jahrzehnte? Zu Zeiten der Systemkonkurrenz zwischen »sozialer Marktwirtschaft« und »sozialistischer Planwirtschaft« mag die allmonatlich fortgezeichnete Arbeitslosenkurve eine Art reziproken ›Aktienkurs des Kapitalismus‹ dargestellt haben. Und heute? Das Gejammer über »Deutschlands Ressourcen«, die »brach liegen« und »von Tag zu Tag mehr verkümmern«, scheint zu schal, zu abgeschmackt, um damit allein die Dominanz und Penetranz des Themas begründen zu können.

Ist es nicht – von außen betrachtet – wunderbar, dass offensichtlich immer weniger gesellschaftliche Arbeit nötig ist, um einen immer größer werdenden gesellschaftlichen Wohlstand zu produzieren?

Offensichtlich nicht. Schließ­lich befinden sich die Produktionsmittel in Händen von Privatpersonen und diese, auch UnternehmerInnen genannt, beschließen, welche und wie viele ArbeiterInnen sie einstellen, um ihr Kapital zu mehren. Diejenigen, die keine Produktionsmittel besitzen, sind darauf angewiesen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern­. Unter diesen Umständen ist die Erwerbslosigkeit eine Last und zwar eine schwerere als die Erwerbsarbeit.

Was geschieht jetzt, da immer weniger gesellschaftliche Arbeit nötig ist und immer mehr Menschen erwerbslos werden?

Anstatt aus dieser Entwicklung politische Konsequenzen in Form von radikaler Arbeitszeitverkürzung oder einem Ausbau der materiellen Ausstattung der Erwerbslosen zu ziehen, wurden immer deutlicher die Erwerbslosen zum zentralen Objekt einer »Politik gegen Arbeitslosigkeit« gemacht. Diese Politik erhöht den materiellen Druck, die eigene Arbeitskraft verkaufen zu müssen, durch verschärfte Bedingungen für Unterstützungszahlungen und deren Kürzung weiter – für Erwerbslose wie auch für (Noch-) LohnbezieherInnen.

Darüber hinaus stehen die Erwerbslosen jedoch auch im Fokus eines ideologischen Diskurses, in dem ihnen selbst die Verantwortlichkeit für ihre Lage und darüber hinaus die Schuld am Problem der Arbeitslosigkeit allgemein zugesprochen wird: Sie seien zu faul, zu unflexibel, lägen in der »sozialen Hängematte« und damit der Bundesanstalt für Arbeit und allen rechtschaffenen BürgerInnen auf der Tasche. Mit solchen Urteilen über ihre Person bekommen es Erwerbslose zu tun. Wenn sie diese nicht für sich selbst angenommen haben, sorgen dafür Erwerbs»tätige«, die durch die Beschimpfung der »Drückeberger« den (Selbst-)Verdacht zu zerstreuen suchen, auch sie hätten einen Hang zur »Faulheit« und gehörten deswegen ebenfalls entlassen. So ist das Joch der Erwerbslosen im Besonderen wie auch das der Lohnabhängigen im Allgemeinen ein doppeltes – zu den materiellen Verhältnissen stellen sich ideologisch verzerrte Wahrnehmungen dieser Verhältnisse ein.

Lohnabhängige können unter den gegebenen Bedingungen ihre Arbeitskraft nur dann verkaufen, wenn es für das Kapital rentabel ist, diese zu kaufen. Bei hoher Arbeitslosigkeit scheint es also im Interesse der ArbeiterInnen zu liegen, die Verwertungsbedingungen ihrer Arbeitskraft für das Kapital zu verbessern. Sie sind in einer verzwickten Position: Neben dem Interessenkonflikt mit dem Kapital befinden sie sich zugleich in einer Abhängigkeit von diesem. Ihr Wunsch nach Standort- und Arbeitsplatzsicherung durch Zugeständnisse an die Unternehmen ist nicht (nur) »falsches Bewusstsein« oder gar Verrat an den eigenen Interessen, sondern unter den gegebenen Bedingungen auch rational.

Dies spiegelt sich in den Erwartungen der ArbeiterInnen an ihre Interessenvertretungen, die Gewerkschaften, wider: Gewerkschaften sollen Arbeitsplätze sichern und sich für den Abbau der Arbeitslosigkeit einsetzen, da das den elementaren Interessen ihrer Mitglieder entspricht (»Was nützt mir der beste Tarifvertrag, wenn ich erwerbslos bin?«). ›Beschäftigungssicherung‹ geht jedoch nur »sozialpartnerschaftlich«, d.h. unter den Bedingungen der UnternehmerInnen, da diese allein und nach eigenen Interessen über Einstellungen und Entlassungen entscheiden. Sofern die Gewerkschaften nicht bereit sind, die Erwartungen zurückzuweisen, sich aktiv an der »Bekämpfung der Arbeitslosigkeit« zu beteiligen, bleibt ihnen nur übrig, diese Bedingungen entweder zu akzeptieren (was eine Schwächung ihrer Verhandlungsmacht und eine Schlechterstellung der Lohnabhängigen zur Folge hat), oder sie zu kritisieren (und sich damit der Gefahr auszusetzen, von der Öffentlichkeit und sogar von ArbeiterInnen selbst die Schuld an der Arbeitslosigkeit zugesprochen zu bekommen). Sie abzulehnen, also einen angebotenen »Standortpakt«, ein »Beschäftigungsmodell« oder ein »Bündnis für Arbeit« platzen zu lassen, können sich Gewerkschaften dann schlicht nicht leisten.

Dieses Dilemma zeigt sich auch im Tenor der Gewerkschaften zu den Vorschlägen der Hartz-Kommission: Auch hier leisten sie sich keine prinzipielle Ablehnung, sondern versuchen unter dem Motto »Hartz veredeln« auf die konkrete Ausgestaltung Einfluss zu nehmen. Neben der anfänglich von Gewerkschaftsspitzen verbreiteten Hartz-Begeisterung werden mittlerweile aufgrund von wachsendem Protest an der Basis kritische Stimmen laut:

Es wird argumentiert, dass das Hartz-Konzept nicht funktioniere, da durch Druck auf Erwerbslose keine neuen Arbeitsplätze geschaffen würden. Darüber hinaus wird der Kommission unterstellt, sie hätte gar nicht wirklich auf den Abbau der Arbeitslosigkeit abgezielt, sondern lediglich im Interesse der Unternehmen Arbeit verbilligen und flexibilisieren wollen. Die Regierung, die anscheinend einem Irrtum oder Betrug aufgesessen ist, wird »aufgeklärt«, so ihr denn nicht vorgeworfen wird, sie habe selbst kein echtes Interesse an der Bekämpf­ung der Arbeitslosigkeit und wolle nur die Statistik manipulieren. Gleichzeitig werden Stimmen laut, die prinzipiell den Ausbau der Leiharbeit, die Kürzung von Unterstützungsleistungen für Erwerbslose oder die Aushöhlung von Tarifverträgen ablehnen.

Was aber, wenn es durch den Ausbau der Leiharbeit für UnternehmerInnen tatsächlich rentabel würde, einige neue kostengünstige Arbeitsplätze einzurichten, und wenn sich aufgrund der Kürzung ihrer Unterstützungsleistungen tatsächlich einige Erwerbslose gezwungen sähen, dort ihre Arbeitskraft zu verkaufen? Könnten diese kritischen Stimmen ihre Zustimmung dann noch verweigern? Die Inkonsistenz der gewerkschaftlichen Hartz-Kritik würde bloß gelegt im Licht des hegemonialen Diskurses über Arbeitslosigkeit.

Regierungen, Parteien, Gewerkschaften, Lohnabhängige und Erwerbslose sind sich größtenteils in einem Punkt einig: Es müssen Jobs her, weil die Arbeitslosigkeit an sich nicht hingenommen werden kann. Die einzigen, die in diesem Land keine Arbeitsplätze zum Selbstzweck schaffen möchten, sind diejenigen, die aus ihnen Profit ziehen – die UnternehmerInnen. Um Nachschub müssen sie sich nicht kümmern: Wenn 4 (5 oder 6) Millionen Menschen Schlange stehen, wenn sämtliche anderen gesellschaftlichen Gruppen inklusive Gewerkschaften dafür eintreten, dass sich niemand vor der Lohnarbeit drücken soll und dass alle abhängig Beschäftigten Weiterbildungen zur Vermehrung ihres ›Humankapitals« durchlaufen, dann müssen UnternehmerInnen dies nicht mehr fordern, sondern können darüber hinaus darauf drängen, dass Beschäftigungsverhältnisse weiter prekarisiert werden, indem z.B. der Kündigungsschutz fällt und Tarifverträge flexibilisiert werden.

Weitgehender als die konservativen Regierungen davor versucht Rot-Grün mit der Reform des Arbeitsmarkts »das große Ganze« nicht aus dem Auge zu verlieren. Alle BürgerInnen sollen nach der gemeinschaftlichen Anstrengung zur »Rettung des Standorts Deutschlands« davon profitieren, dass sie zur Annahme irgendeiner Lohnarbeit an irgendeinem Ort zu beinahe beliebigen Bedingungen gezwungen worden sind. Für die großartige Aufgabe »Deutschland retten« müssen deswegen alle Interessengruppen an einen Tisch gebracht werden. Dabei ist es hilfreich, wenn sich – wie im aktuellen Fall – niemand dagegen wehrt, alle sogar freiwillig kommen, die Vorgaben der Regierung damit akzeptieren und – oh Wunder – das Ergebnis, das vorher schon in seiner Richtung grob feststand, freudestrahlend gemeinsam verkünden.

Diese moderne Form des Arbeitszwangs heißt bei Rot-Grün »Teilhabe« und geht davon aus, dass Möglichkeiten zu sozialen Beziehungen in dieser Gesellschaft von (Erwerbs-)Arbeit abhängen. Das ist als Beobachtung nicht falsch, der Analyse fehlt jedoch ein wesentlicher Schritt: Nicht der Einsatz der Arbeitskraft an sich ermöglicht die gesellschaftliche Teilhabe im Kapitalismus, sondern ihr Verkauf gegen Lohn, von dem sich Miete, Auto, Alkohol und Fernseher bezahlen lassen. Mit diesem Fehlschluss geht eine gesellschaftlich internalisierte Überhöhung von Arbeit einher, die eine moralische Pflicht zu arbeiten beinhaltet und damit Repressionen gegen »Faulenzer« rechtfertigt.

Daraus wird die Konsequenz gezogen, dass auch das Recht an diese gesellschaftlichen Verhältnisse angepasst werden muss: Ansprüche, etwa auf finanzielle Unterstützung zur Lebenssicherung, darf nur stellen, wer arbeitet oder nachweisen kann, dass sie oder er es um alles auf der Welt will und Arbeiten Zweck und Inhalt des Lebens ist. Gut sozialdemokratisch will unsere paternalistische Regierung nur das Beste für die BürgerInnen, und das bedeutet eben, allen Menschen zu ermöglichen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, ihnen Arbeit zu verschaffen, sie notfalls zur Arbeit zu nötigen – ein Sozialstaat neosozialdemokratischer Prägung.

Gegen diesen »aktivierenden Sozialstaat«, der mittels Zwangsmaßnahmen die Verwertungsbedingungen für das Kapital verbessert, und gegen die Abhängigkeit der Menschen von der Verwertung des Kapitals hilft nur die Entkopplung der materiellen Absicherung von der Erwerbsarbeit. Hierfür sind die Entziehung der Produktionsmittel aus privater Verfügungsgewalt und nichts Geringeres als ein gesellschaftlicher Umsturz nötig.

(mira/hfs)

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