Der ganz normale Wahnsinn

Zur Militarisierung der deutschen Außen- und Innenpolitik

Peter Struck ist unheimlich stolz auf seinen 2002 noch kontroversen programmatischen Spruch, die Sicherheit Deutschlands werde auch am Hindukusch verteidigt, und verwendet ihn zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit wieder. Zuletzt wurde der oft bemühte Text von Strucks CDU-Kollegen Christian Schmidt aufgenommen, der ihn erweiterte, und verlangte, nicht nur am Hindukusch, sondern auch in Hindelang müsse Deutschland verteidigt werden. Dies sind nicht nur irgendwelche dummen Sprüche dummer Politiker. Sie sind Ausdruck einer zunehmenden Entgrenzung der deutschen Verteidigungspolitik und ein Zeichen für die verstärkte Militarisierung der deutschen Außen- und auch Innenpolitik.

Solch weitreichende Entscheidungen wie der Umbau der Bundeswehr von einer noch vor wenigen Jahren immobilen, gegen die Warschauer Vertragsorganisation gerichteten Verteidigungsarmee in eine global agierende Interventionsarmee werden gerade mit der größten Selbstverständlichkeit getroffen, was von einer bereits weitgehend vollzogenen ›Normalisierung‹ Deutschlands als Militärmacht zeugt. Dies wird dokumentiert in den im Mai 2003 vorgestellten neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR). Begründet wird die Umgestaltung damit, dass an den deutschen Außengrenzen keine Bedrohungen mehr zu erwarten seien, sondern Gefahren vielmehr von so genannten asymmetrischen und terroristischen Bedrohungen ausgingen und dass diesen mit einer neuen Form von Armee begegnet werden müsse.

Hindukusch - the Empire strucks back

"Künftige Einsätze lassen sich wegen des umfassenden An­satzes zeitgemäßer Sicherheits- und Verteidigungspolitik und ihrer Erfordernisse weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geo­gra­fisch eingrenzen", so steht es in den VPR. Die Informationsstelle Militarisierung bemerkt zu den Richtlinien zutreffend, mit ihnen läge nun eine verbindliche Grundlage für den grenzenlosen Einsatz der Bundeswehr gegen alle erdenklichen Ziele in jeder erdenklichen Dauer und in jeder möglichen Intensität vor - auch für so genannte Präventivkriege. Mit dem Grundgesetz, in dem das Führen von Angriffskriegen explizit verboten wird und in dem es heißt: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf", sind diese Vorhaben deshalb vereinbar, weil der neue Verteidigungsbegriff extrem weit gefasst wird. Es ist nicht mehr notwendig, angegriffen zu werden, um sich zu verteidigen, sondern praktisch jeder Einsatz der Bundeswehr stellt einen Verteidigungsfall dar, ganz egal wo und gegen wen. Diese Logik zu vertreten, ist platt und dreist, aber zweckmäßig.

Obwohl die BRD faktisch und rechtlich eine immer souveränere Militärmacht wird, braucht sie dennoch eine Legitimierung für ihre Beteiligung an militärischen Einsätzen. Auch die jetzige Regierung hat den Weg gewählt, sich als "zivile Friedensmacht" zu gerieren. Dieses Image wird so laut und so penetrant verbraten, dass sich der empirische Beweis für das Zutreffen dieser Aussage zu erübrigen scheint. Die Umrüstung der Bundeswehr zu einer "Armee im Einsatz" steht dabei nach Auffassung Strucks dem Image als Friedensmacht nicht entgegen, sondern ist vielmehr logisch verknüpft: Die Bereitschaft zum Einsatz militärischer Mittel ist für ihn Voraussetzung für politische Glaubwürdigkeit.

Was an dieser Ar­gu­men­ta­tion nicht nur lächerlich und unglaubwürdig, sondern zynisch und menschenverachtend ist, ist der Bezug zum Nationalsozialismus, über den Deutschland seine Friedensliebe und seinen moralischen Impetus herleitet. Nach gerade mal 54 Jahren hatte die neue selbstbewusste Verteidigungsnation Deutschland sich von genügend historisch bedingten Beschränkungen freigemacht, um endlich ihren ersten Angriffskrieg führen zu können. Damals diente die nationalsozialistische Vergangenheit zur Rechtfertigung der deutschen Beteiligung. Sie war geboten, "nicht trotz, sondern wegen Auschwitz". Seither wird mit dem Nationalsozialismus je nach Bedarf flexibel für oder gegen die Beteiligung an einem Krieg argumentiert. Beim Krieg gegen den Irak war z.B. zu hören, dass gerade "wir Deutschen" nachvollziehen könnten, wie schrecklich es sei, von den USA bombardiert zu werden.

Jenseits der friedlichen und moralischen Rhetorik verfolgt Deutschland mit seinen Militäreinsätzen die gleichen Interessen wie jeder andere Staat. Motivation für die Einsätze sind Machterhalt bzw. -gewinn im internationalen System, die Sicherung von wirtschaftlichen Investitionen und Handelswegen, der Zugang zu Ressourcen, und das Fernhalten der flüchtenden Zivilbevölkerung vom eigenen Land. In den alten VPR, die noch unter Verteidigungsminister Volker Rühe entstanden, stehen solche Ziele noch relativ unverblümt drin. Im rot-grünen Jargon heißt das teilweise vornehmer, man kämpfe für "die Errungenschaften moderner Zivilisation wie Freiheit und Menschenrechte, Offenheit, Toleranz und Vielfalt", was aber im Prinzip dasselbe bedeutet. Ein paar Seiten weiter spart man sich dann auch schon die blumige Sprache und redet Tacheles: "Um seine Interessen und seinen internationalen Einfluss zu wahren, (…) stellt Deutschland im angemessenen Umfang Streitkräfte bereit".

Auch die Hürden, die für einen Einsatz bewaffneter Bundeswehreinheiten im Ausland gelten, sollen herabgesetzt werden. Rot-Grün wünscht sich eine Regelung, nach der "humanitäre Hilfsdienste" und Einsätze, die der Vorbereitung und Planung größerer Militäroperationen dienen, nicht länger im Bundestag zustimmungspflichtig sind, sondern vom Kabinett direkt beschlossen werden können. Das geht allerdings Union und FDP nicht weit genug. Sie möchten zum Teil Abstimmungen auf Vorrat ermöglichen oder wollen, dass "geheime Ausschüsse" über die Entsendung deutscher Soldaten bestimmen können. Sie treibt jeweils die Angst um, dass die Entscheidungsfindung im Bundestag zu langsam sein könnte und deshalb ein Militäreinsatz ohne deutsche Beteiligung zu befürchten wäre. Jetzt, da man endlich vor der mehr oder weniger vollständigen ›Normalisierung‹ der militärischen Verhältnisse steht, möchte man sich auch wirklich nicht das kleinste Scharmützel entgehen lassen, so eine Teilnahme daran denn im eigenen Interesse liegt.

Umarmungsstrategie - das Vorantreiben der ›Normalisierung‹ über Bündnisse

Weil die BRD bisher - glücklicherweise - nicht in der Lage ist, alleine Kriege zu führen, ist die Stärkung militärischer Bünd­nis­se, in denen sie vertreten ist, stets wichtiges politisches Ziel der wechselnden Bundesregierungen. Ob in NATO, UNO oder der EU, stets versucht die BRD durch eben solche Bündnisse ihre militärpolitische ›Normalisierung‹voranzutreiben, zuletzt durch die erneute Forderung Gerhard Schröders nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Die ›Normalisierung Deutschlands‹ ist jedoch nicht nur ein Projekt der bundesdeutschen Politik, sondern wird auch von anderer Seite unterstützt: Zu den Feiern zum 60. Jahrestag der Alliierten-Landung in der Normandie ist im Juni 2004 zum ersten Mal auch der deutsche Bundeskanzler eingeladen, ein hoch-symbolisches Privileg, das zehn Jahre zuvor Helmut Kohl noch versagt geblieben war. Gerhard Schröder wertete diese Geste auch gleich begeistert als "endgültiges Ende der Nachkriegszeit".

Das bündnispolitische Hauptprojekt der Bundesregierung ist zur Zeit die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsinitiative, auch deshalb, weil Deutschland auf EU-Ebene seine Interessen relativ leicht durchsetzen kann. Nach dem vorläufigen Scheitern der Idee einer europäischen Armee wird sich hier v.a. auf die gemeinsame Rüstungspolitik und auf die Schnellen Eingreiftruppen beschränkt. Diese sollen - bisher noch im Rahmen der NATO - relativ eigenständig agieren können, vor allem dann, wenn Ziele auf dem europäischen Kontinent anvisiert werden. Dass, wie beim Kosovo-Krieg, die USA aushelfen müssen, um den Krieg für die EU-Staaten zu einem akzeptablen Ergebnis zu bringen, will die EU nicht auf sich sitzen lassen.

Hindelang - mehr als nur irgendein Allgäuer Kaff

Spätestens seit den Anschlägen in Madrid vom März dieses Jahres wird wieder verstärkt laut über den Einsatz der Bundeswehr im Inland sowie über eine dementsprechende Grundgesetzänderung nachgedacht. Eine Militarisierung der inneren Sicherheit ist in den VPR bereits angelegt, ganz ohne eine solche Änderung. Dort heißt es: "Angesichts der gewachsenen Bedrohung des deutschen Hoheitsgebiets durch terroristische Angriffe gewinnt der Schutz von Bevölkerung und Territorium an Bedeutung und stellt zusätzliche Anforderungen an die Bundeswehr bei der Aufgabenwahrnehmung im Inland." Und weiter: "Zum Schutz der Bevölkerung und der lebenswichtigen Infrastruktur des Landes vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen wird die Bundeswehr Kräfte und Mittel entsprechend dem Risiko bereithalten."

Von der Union kommt außerdem noch eine neue Idee. Sie möchte einen "Nationalen Heimatschutz" einrichten, der aus Bundeswehr, Polizei und Katastrophenschutz besteht und der "Terrorabwehr" dienen soll. Sie nennt das "Kriegsprävention im Inland". Vor allem Großereignisse wie die Fußball-WM 2006 müssten auch militärisch geschützt werden. Verteidigungsminister Struck sieht das gelassen. Er ist mit der rot-grünen Regierung und auch der FDP noch der Meinung, dass Soldaten keine Polizeiaufgaben im Inland übernehmen sollten, und dass für alle anderen Eventualitäten die Vorkehrungen, die im Grundgesetz für einen "Verteidigungs- oder Spannungsfall" getroffen wurden, ausreichen. Die Streitkräfte würden dennoch immer dann zur Verfügung stehen, wenn nur sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügten oder wenn zusätzliches Personal gebraucht würde. Seine Gelassenheit verwundert nicht, denn wenn man den Verteidigungsbegriff zu Grunde legt, den Struck in den VPR entwickeln ließ, ist auch hier wieder alles möglich und vom Grundgesetz gedeckt.

Die totale Sicherheit

Von Seiten der Union wird auch der Ruf nach einem "Gesamtverteidigungskonzept" immer lauter. Es sieht die Zentralisierung von Kriminalpolizei und Geheimdiensten vor und soll die Trennung der verschiedenen Organe der inneren und äußeren Sicherheit aufheben. Polizei und Geheimdienste sollen verstärkt zusammenarbeiten und intensiveren Datenaustausch betreiben. Diese Forderungen sind nichts anderes als der Ruf nach einem formalen Systemwechsel, hin zu einem auch offiziell autoritären Sicherheitsstaat, mit zentralisierter exekutiver Macht und einer Aufhebung des Trennungsgebots der Gewaltapparate, deren Festschreibung eine Konsequenz aus historischen Erfahrungen war.

Was sich also abzeichnet, ist eine engere Verknüpfung und eine Militarisierung der deutschen Außen- und Innenpolitik. Im Zuge dieser autoritären Entwicklung wird die ›Normalisierung‹ Deutschlands mit repressiven Mitteln vorangetrieben. Sie wird mit der Stationierung deutscher Soldaten am Hindukusch und auf deutschen Bahnhöfen noch nicht ihren Abschluss gefunden haben.

(yo)

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